Fortschritte der Onkologie – Präzisionsmedizin als Chance

Fortschritte der Onkologie – Präzisionsmedizin als Chance

Technologische Fortschritte, ein verbessertes Verständnis molekularbiologischer Zusammenhänge und wachsende Kenntnisse zu den Pathomechanismen vieler Krankheiten haben in den letzten Jahren eine eindrucksvolle Dynamik in der Onkologie in Gang gesetzt.1 Bei verschiedenen Krebserkrankungen kann aufgrund der medizinischen Fortschritte heute teils sogar eine sogenannte funktionelle Heilung erzielt werden.2 In Zahlen zeigt sich das wie folgt: Fast 5,4 Millionen vermiedene Krebstodesfälle konnten nach einer aktuellen Studie im Zeitraum von 1989 bis 2022 in der EU vorhergesagt werden, davon 369.000 allein im Jahr 2022. Eine große Rolle spielen dabei Fortschritte bei Diagnose und Therapie.3

Die Zahl innovativer Arzneimittel zur Behandlung verschiedener Krebsarten hat besonders in den letzten 20 Jahren verstärkt zugenommen und die Therapielandschaft nachhaltig verändert: Während 2002 noch 70 Medikamente in der onkologischen Versorgung zur Verfügung standen, hat sich die Zahl im Jahr 2020 mehr als verdreifacht auf über 240 Arzneimittel. Und diese Entwicklung ist noch lange nicht zu Ende: 2021 sind 14 weitere und 13 in 2022 hinzugekommen. Die Erweiterungen der Anwendungsgebiete bestehender Arzneimittel ist dabei nicht mitgezählt.4,5,6,7

Die Zahl innovativer Arzneimittel zur Behandlung verschiedener Krebsarten hat in den letzten 20 Jahren stark zugenommen.

mod. nach 6,7 [US-Daten; Quelle: Janssen-Cilag GmbH in Anlehnung an vfa]

Die Fortschritte in der Onkologie und die Vielzahl der Therapieinnovationen konnten bereits in vielen Krebsarten die Heilungschancen verbessern und das 5- sowie 10-Jahresüberleben verlängern. Über 50 Prozent der onkologischen Patient:innen kann heute auf eine dauerhafte Heilung hoffen.4,8

Die Fortschritte in der Onkologie konnten bereits bei vielen Krebsarten das 5-Jahresüberleben verlängern.

1 Populationsdaten zum Überleben reflektieren erst zeitversetzt den medizinischen Fortschritt.
mod. nach 7,9 [US-Daten; Quelle: Janssen-Cilag GmbH in Anlehnung an vfa]

Das 10-Jahresüberleben nach einer Krebsdiagnose hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt – auch dank der Therapieinnovationen.

mod. nach 7,9 [US-Daten; Quelle: Janssen-Cilag GmbH in Anlehnung an vfa]

Präzisionsonkologische Therapieansätze im Fokus

Insbesondere präzisionsonkologische Medikamente spielen bei dieser Entwicklung zunehmend eine Rolle und stehen im Fokus der onkologischen Forschung: Bei 78 der neuen Therapieoptionen zur Behandlung von Krebsarten handelt es sich um personalisierte Behandlungsansätze, für deren Einsatz in einer offiziellen Bekanntmachung (z. B. Fachinformation) ausdrücklich eine Testung vor der Behandlung verlangt oder empfohlen wird. Fasst man den Begriff noch weiter und zählt darunter auch solche Therapien, die präzise an einem Merkmal des Tumors ansetzen, aber keinen Biomarker-Nachweis voraussetzen, dann sind es sogar noch mehr.10

Allein wir von Janssen haben seit 2011 elf neue Medikamente auf den Markt gebracht, die u.a. durch zielgerichtete Ansätze die Therapien von einigen Tumoren wesentlich verbessert haben. Anders als herkömmliche Chemotherapien bekämpfen diese zielgerichteten Medikamente den Krebs bereits sehr präzise. Viele immunonkologische Therapien sind ebenfalls auf ein spezifisches Tumor- oder Immunprofil einer/eines Patient:in zugeschnitten und gehören damit ebenso zu den präzisionsonkologischen Ansätzen. Indem die Präzisionsonkologie oder auch personalisierte Onkologie sehr genau an molekularen, genetischen und proteomischen Merkmalen (Biomarker) des Tumors ansetzt, verspricht die Forschung sich davon den Krebs gezielter, individueller und nachhaltiger zu behandeln als zuvor möglich war.

Besonders eindrucksvolle Beispiele solch neuer zielgerichteter Substanzen und innovativer Therapiekonzepte sind die hochindividuellen CAR-T-Therapien, die das Immunsystem des Körpers aktivieren, den Krebs selbst zu bekämpfen. Auch tumoragnostische Ansätze, die unabhängig von der Tumorhistologie ganz gezielt an bestimmten Genmutationen ansetzen, sind an dieser Stelle zu nennen und gehören zu unserem Forschungsportfolio. Sie können insbesondere bei seltenen Krebserkrankungen, für die es häufig noch nicht ausreichend wirksame Therapien gibt, neue Perspektiven bieten.

In vielen onkologischen Indikationen kommen zunehmend zielgerichtete und immunonkologische Therapien zum Einsatz.

Beispiele innovativer Therapieansätze in Klinik und Forschung (Quelle: Janssen-Cilag GmbH)

Abbildung: Beispiele innovativer Therapieansätze in Klinik und Forschung (Quelle: Janssen-Cilag GmbH)

In vielen verschiedenen onkologischen Indikationen können besonders zielgerichtete und immunonkologische Therapien die Prognose der Betroffenen bereits verbessern und teils ein deutlich längeres Überleben erzielen, z. B. beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom, beim Chemotherapie-refraktären Urothelkarzinom und auch bei hämatologischen Neoplasien wie B-Zell-Lymphomen.11,12 Darüber hinaus können diese neuen Therapieansätze i. d. R. zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen.13 Häufig sind sie im Vergleich zu früheren Behandlungsarten weniger belastend und zeigen eine bessere Wirksamkeit.4

Patient:innen mit Multiplem Myelom lebten vor zehn Jahren im Durchschnitt nur noch vier Jahre nach Erkrankungsbeginn. Neue Therapien wie monoklonale Antikörper, bispezifische Antikörper oder CAR-T-Zelltherapien haben in den letzten zehn Jahren zu einer signifikanten Verbesserung geführt. Deutsche Expert:innen gehen heute davon aus, dass sie das multiple Myelom noch als heilbare Erkrankung erleben werden. Mehr zu Hintergründen und Therapieoptionen beim Multiplen Myelom finden Sie hier.14,15

Menschen mit fortgeschrittenem metastasiertem kastrationsresistentem Prostatakarzinom lebten früher nach Erkrankung nur knapp ein Jahr. Aufgrund neuer Therapieoptionen leben sie heute bei frühem Therapiebeginn im Durchschnitt 4,5 Jahre. Ein Durchbruch in der Therapie konnte mit innovativen Arzneimitteln erreicht werden, mit denen eine weitere Ausbreitung des Prostatakrebs verzögert werden kann.16 Erfahren Sie hier mehr zu Hintergründen und Therapieoptionen beim metastasierten kastrationsrefraktären Prostatakarzinom.

Chancen der Präzisionsmedizin

In der Präzisionsmedizin werden individuelle diagnostische Methoden, Befunde der Bildgebung und Gesundheitsinformationen der Patient:innen synergistisch genutzt, um einen auf die Patient:innen präzise zugeschnittenen Therapieansatz zu eruieren.17 Entgegen dem „one size fits all“ Ansatz bietet die Präzisionsmedizin die Chance, einzelne Patient:innengruppen möglichst frühzeitig zu identifizieren, die am wahrscheinlichsten von den jeweiligen Therapien profitieren.17,18,19

Weitere mögliche Vorteile sind:

  • Vermeidung sog. trial-and-error Ansätze, damit Patient:innen zum richtigen Zeitpunkt die für sie am besten geeignete Therapie erhalten18,19
  • Frühzeitige Entscheidungen zur Behandlungssequenz20
  • Reduzierung unerwünschter Nebenwirkungen (sog. off-target Toxizitäten)21
  • Vertieftes Verständnis der molekularen Treiber des Tumorwachstums, um bessere Behandlungsergebnisse zu erreichen21,22,23

Forschungsaufgabe: Neue Ziele detektieren, Langzeitresistenzen und Ansprechraten optimieren

Die Präzisionsonkologie ist mittlerweile ein fester Bestandteil der onkologischen Versorgungspraxis geworden. Trotz aller Fortschritte und den vielen neuen Therapiemöglichkeiten sind in vielen Indikationen aber noch nicht für alle Betroffenen ausreichend wirksame Therapien verfügbar. Neben der Suche therapeutisch adressierbarer Biomarker stellen u.a. Langzeitresistenzentwicklungen und ein schlechtes Ansprechen bei bestimmten Patient:innengruppen weiterhin Herausforderungen in der Klinik dar, denen es zu begegnen gilt, um Prognose und Lebensqualität weiter zu verbessern.24

Auch für diese bislang ungelösten, medizinischen Fragestellungen zeichnen sich mit präzisionsonkologischen Ansätzen, insbesondere neuen Immuntherapiekonzepten, mögliche Lösungen ab. Wir bei Janssen fokussieren uns in unserer aktuellen Krebsforschung auf ausgewählte Bereiche mit einem hohen Bedarf und über die wir während über 30 Jahren Krebsforschung bereits viel gelernt haben: u.a. hämatologische Neoplasien, Urothelial-, Prostata- und Lungenkarzinom (NSCLC).

In der Entwicklung unserer onkologischen Arzneimittel setzen wir dabei auf die Präzisionsmedizin und fokussieren uns auch im Bereich Immunonkologie  vor allem auf präzise wirkende Immuntherapien.

Quelle: Janssen-Cilag GmbH

Aktuell entwickeln wir mehr als 14 Wirkstoffe im Bereich Krebs weiter – darunter auch immunonkologische Wirkstoffe. In der Entwicklung unserer onkologischen Arzneimittel setzen wir dabei auf die Präzisionsmedizin und fokussieren uns auch im Bereich Immunonkologie vor allem auf präzise wirkende Immuntherapien. Ein weiterer Fokus liegt auf tumoragnostischen Therapieansätzen. Einige Substanzen sind bereits in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung.

Value Based Healthcare

Damit Krebs zu einer nicht nur behandelbaren, sondern heilbaren oder gar vermeidbaren Erkrankung wird, reichen bahnbrechende Ideen für neue, immer bessere Behandlungsansätze allein nicht aus. Vielmehr müssen diese Ansätze auf ein Gesundheitssystem treffen, das sowohl nachhaltig leistungsfähig als auch bezahlbar ist und somit ermöglicht, dass jede:r Krebspatient:in zum richtigen Zeitpunkt die für sie/ihn individuell bestmögliche Therapie erhalten kann. Dazu muss das aktuelle System fundamental neu als werteorientiertes Gesundheitssystem (Valuebased Healthcare; VBHC) gedacht werden – und zwar ausgehend vom bestmöglichen Ergebnis für Patient:innen. Ausschlaggebend für die Bewertung der Behandlungsqualität im Sinne von VBHC sind nicht nur medizinische Parameter, sondern das Ergebnis aus Sicht der Betroffenen. Dementsprechend definiert dieser Anspruch auch konsequent das individuelle Versorgungsziel sowie die Therapieauswahl und -sequenz. Zudem muss ein solch ergebnisorientiertes System ganzheitlich die Voraussetzungen für fortwährende Verbesserungen und für eine schnelle, effektive Implementation neuer, hochwirksamer Behandlungsansätze in den Versorgungsalltag bereitstellen.

Biomarker – Kernelement der Präzisionsonkologie

Biomarker ermöglichen es potenziell jedem Tumor eine einzigartige molekularpathologische Signatur zuzuweisen. Damit bilden sie einen wichtigen Ausgangspunkt für die Entwicklung präzisionsonkologischer Therapieansätze, ebenso wie für deren effektiven Einsatz in der ärztlichen Praxis. Mit dem genomischen Tumorprofiling können pathologisch kausale chromosomale Aberrationen bzw. Treibermutationen identifiziert werden, die als mögliche Ansatzpunkte in der Entwicklung zielgerichteter Therapien genutzt werden können: z. B. Tumorgene, die für Komponenten einer Signalkaskade kodieren.

Biomarker können jedem Stadium eine wichtige Rolle spielen und z. B. Aussagen zum Therapieansprechen ermöglichen.

modifiziert nach 25

Prädiktive Biomarker können zudem Aussagen über das patientenindividuelle Ansprechen auf eine Therapie ermöglichen und so entscheidend bei der Wahl der individuell geeigneten Behandlung helfen. Denn eine Vielzahl potenziell hochwirksamer präzisionsonkologische Arzneimittel ist wesentlich durch das Vorliegen eines bestimmten Tumormarkers bestimmt. Dies betrifft beispielsweise das Bronchial-, Prostata- oder Mammakarzinom. So stellt der humane epidermale Wachstumsfaktor-Rezeptor 2 (HER2) beim Mammakarzinom sowohl einen prädiktiven Biomarker dar und ist auch für die Biomarker-basierte Therapiestratifizierung entscheidend.26 Dasselbe gilt auch für den epidermale Wachstumsfaktor (EGFR), der sich beim Bronchialkarzinom als prädiktiv relevant herausstellte.27 Klinische Studien, welche gegen EGFR gerichtete Therapien beim Bronchialkarzinom untersuchten, demonstrierten die Bedeutung der Molekulardiagnostik im Rahmen onkologischer Indikationen. Denn eine wichtige Erkenntnis war, dass die „bloße“ EGFR-Überexpression nicht zwangsläufig ein Ansprechen auf die Therapie bedeutete – vielmehr musste sich der EGFR durch distinkte molekulare Eigenschaften charakterisieren, damit der Wirkmechanismus greifen konnte.

In der Praxis setzt der effektive Einsatz Biomarker-gestützter Therapien so meist eine molekulare Begleitdiagnostik (Companion Diagnostics) voraus, die vor allem immunhistochemische und genomische Analysen umfasst.28 Mit ihr kann sich das Therapieansprechen vorhersagen lassen.29 In der EU ist sie bei vielen zugelassenen zielgerichteten Arzneimitteln verpflichtend.10 Mehr zu Molekulardiagnostik und Biomarker-gestützten Therapien erfahren Sie hier .

Präzisionsonkologie zwischen Potenzial und neuen Herausforderungen

Das hohe Potenzial der neuen zielgerichteten und immuntherapeutischen Ansätze steht noch häufig strukturellen und gesundheitspolitischen Herausforderungen gegenüber. Damit es sich vollumfänglich entfalten kann, fehlt es noch zu einem großen Teil an den passenden Rahmenbedingungen.

Noch wird beispielsweise die molekulare Begleitdiagnostik nicht flächendeckend in Deutschland eingesetzt – auch aufgrund von Unterschieden in der Erstattung. Zudem variiert die Analysequalität verschiedener Labore, es gibt keine einheitliche Kostenerstattung und teilweise unterscheiden sich die angewandten Testverfahren.29 So wird Next Generation Sequencing (NGS) noch nicht regelhaft eingesetzt, obwohl seine diagnostische Sensitivität vor allem im Hinblick auf seltene Tumormutationen deutlich höher als die der PCR-Testung ist. Die Hochdurchsatzsequenzierung kann zudem gleich eine Vielzahl von Tumorgenen auf potenzielle Treibermutation hin analysieren und das bei vergleichsweise überschaubarem Aufwand.

Das kann dazu führen, dass Patient:innen ggf. nicht die Therapie erhalten können, welche im Hinblick auf die molekulargenetischen Merkmale ihres Tumors die besten Aussichten verspricht. Daten aus dem Versorgungsalltag deuten darauf hin, dass Patient:innen ohne Molekulardiagnostik ein kürzeres Gesamtüberleben aufwiesen verglichen mit denjenigen, die Zugang zu einer adäquaten Testung auf Biomarker haben. Ferner hat eine retrospektive monozentrische Studie aus dem US-amerikanischen Praxisalltag ein verbessertes Gesamtüberleben aufgezeigt, wenn Patient:innen eine umfassende molekulare Genotypisierung erhielten, was mutmaßlich in der stärkeren Verschreibung zielgerichteter Therapien mündete und hierauf zurückgeführt wurde.18,21,30

Zugang Molekulardiagnostik

Obwohl eine umfassende Molekulardiagnostik entscheidend ist, um das volle Potenzial der Präzisionsmedizin auszuschöpfen, haben in der gesamten EMEA-Region (Europa, naher Osten, Afrika) zu wenige Patient:innen und Ärzt:innen hierzu Zugang.

Hürden sind unter anderem:31

  • Verzögerungen zwischen der Zulassung präzisionsonkologischer Therapien mit vorgeschriebener Begleitdiagnostik und der Erstattung der Testung im Gesundheitswesen
  • Inkonsistenzen und strukturelle Hürden bzgl. der Laborinfrastruktur
  • Verzögerungen bei der Aufnahme molekulardiagnostischer Methoden in Leitlinien
  • Fehlendes Bewusstsein für die Vorteile molekulardiagnostischer Testung

Damit sich der Anteil der umfassend molekulardiagnostisch untersuchten Patient:innen erhöht und sie die individuell „passenden“ Präzisionstherapeutika bekommen können, setzen wir uns bei Janssen zusammen mit Fachgesellschaften auch für die Etablierung von Standards für die begleitende Molekulardiagnostik und den Zugang zu dieser ein. Eine wichtige Maßnahme auf dem Weg ist der kontinuierliche Ausbau von Netzwerken und Infrastrukturen ebenso wie das Vorantreiben von Akkreditierung und die Zertifizierung von Laboren.

Teils vollständig neuartige Therapiekonzepte zur zielgerichteten und/oder immunonkologischen Behandlung auf Basis molekulargenetischer Tumoreigenschaften bergen auch im Hinblick auf ihre klinische Überprüfung und die Implementierung in die Versorgungspraxis einige neue Herausforderungen: Bei einigen der neuen Therapieansätze sind z. B. randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) entweder in der Praxis nicht durchführbar oder können ethisch nicht vertreten werden. RCTs sind im Regelfall die beste Möglichkeit, um mit geringen Verzerrungspotenzial eine neue Therapie vergleichend zur Standardtherapie zu bewerten. Nicht umsonst gelten sie als Goldstandard. Doch besonders in Fällen, in denen ein hohes Wirksamkeitspotenzial auf einen hohen therapeutischen Bedarf trifft, bei schwerwiegenden Erkrankungen oder bislang fehlenden bzw. nicht ausreichend wirksamen Behandlungsmöglichkeiten, braucht es alternative Studienkonzepte zur Überprüfung von Wirksamkeit und Verträglichkeit neuer Arzneimittelinnovationen. Ein Beispiel dafür sind einarmige Studien. Statt einem Kontrollarm werden Daten aus Registern und historische Daten aus früheren Studien zum Vergleich berücksichtigt, um den Nutzen nachzuweisen.32

Ein anderes Beispiel sind Basket- oder Umbrella-Studien, die vor allem bei tumoragnostischen Therapien, die Tumorhistologie-übergreifend auf bestimmte molekulare Aberrationen zielen, von Bedeutung sind. Da die Studienteilnehmer:innen hier aufgrund eines gemeinsamen tumorgenetischen Merkmals und nicht nach klassischer Indikation ausgewählt werden, sind die zu untersuchenden Kohorten in den verschiedenen Indikationen mitunter sehr klein und reichen einzeln betrachtet häufig nicht für den Evidenznachweis aus. Hinzu kommt, dass es für die verschiedenen Indikationen unterschiedliche Standardtherapien gibt, was das Festlegen einer Vergleichstherapie kaum möglich macht.33

Teilnehmer von Basketstudien werden tumorhistologieübergreifend nach gemeinsamen onkogenen molekularen Alteration ausgesucht.

Abbildung nach 33

Nach einzelfallgerechter Abwägung werden alternative Studienkonzepte in besonderen Therapiesituationen von den zuständigen Zulassungsbehörden bereits für den Evidenznachweis berücksichtigt und anerkannt. Anders sieht es jedoch noch in der Nutzenbewertung innovativer Therapieansätze durch das AMNOG aus. Evidenz, die nicht aus klassischen RCTs stammt, wird hier noch kategorisch abgelehnt und findet keinen Eingang in die Bewertung. An dieser Stelle ist eine Anpassung der Bewertungskriterien sinnvoll, damit diese noch „fitter“ werden und mit dem medizinischen Fortschritt mithalten können. Dazu sollte gemeinsam festgelegt werden, wie die jeweils zur Verfügung stehende Evidenz bestmöglich im Rahmen der Nutzenbewertung genutzt werden kann.33

Die stärkere Berücksichtigung von umfangreichen Daten aus dem Versorgungsalltag kann im Vergleich weitere Evidenz zur Wirksamkeit und Verträglichkeit einer Therapie liefern und so zusätzlich für deren Bewertung genutzt werden. Darüber hinaus können Daten aus der Versorgungspraxis auch für die Forschung und die klinische Praxis von großer Bedeutung sein.32 Aktuell kommen diese Daten aber immer noch nur relativ eingeschränkt zur Nutzung oder werden oft nicht akzeptiert.

Das von uns gegründete europaweite Forschungsnetzwerk von Datenzentren aus Universitäts- und Privatkliniken, Registern, medizinischen Gesellschaften und anderen Institutionen HONEUR (Haematology Outcomes Network in EURope) ermöglicht beispielsweise Daten aus dem Versorgungsalltag von Patient:innen mit hämatologischen Erkrankungen patient:innenindividuell zu aggregieren, zu harmonisieren und auf bestimmte forschungsrelevante Fragenstellungen hin systematisch zu analysieren.

Mit einer zunehmenden Anzahl prognostisch sowie therapeutisch relevanter Biomarker und präzisionsonkologischer Therapieoptionen bieten sie auch die Chance, wichtige Erkenntnisse zum Einfluss der Molekulardiagnostik und der Anwendung zielgerichteter Therapien für die Versorgungspraxis zu gewinnen. So können sie beispielsweise einen wichtigen Beitrag bei der Frage nach einem möglichen Therapiealgorithmus leisten. Denn Tumoren weisen normalerweise mehrere Treibermutationen auf. Jedoch ist es weder zielführend noch möglich alle molekularen Signaturen gleichzeitig zu adressieren und neben den molekularen Eigenschaften des Tumors spielen auch weitere individuelle Merkmale der jeweiligen Patient:innen eine Rolle. Real World-Daten können hier wichtige Hinweise geben, auf welches molekulare Target zu welchem Zeitpunkt und für welche:n Patient:in der Therapiefokus gelegt werden soll, um den individuell größtmöglichen Nutzen zu erreichen.

Gesundheits- und Real-World-Daten insbesondere Patient Outcome Reports bergen ein enormes Potenzial, um die onkologische Versorgung in vielerlei Hinsicht zu verbessern und werden so in immer stärkeren Umfang genutzt. Das erstreckt sich von der Diagnostik über die Erforschung und Entwicklung zunehmend individueller, präziser Therapien bis hin zur Therapieentscheidung durch die Ärzt:innen.

Die Herausforderung der Multi-, Omics- und Real-World-Daten besteht jedoch darin, diese unfassbar großen, in rasanter Geschwindigkeit wachsenden Datenmengen – u.a. aus dem Versorgungsalltag, Studien, der Forschung und Registern – wissenschaftlich sowie klinisch nutzbar zu machen. Das setzt voraus, dass ein hoher Digitalisierungsgrad erreicht wird und strukturierte, einheitliche und einfache Systeme zur Datenerfassung zur Verfügung stehen. Ebenso braucht es intelligente Lösungen und Tools zur Analyse, Verknüpfung und Interpretation der Daten.

Die Nutzung KI-basierter Tools gewinnt in dem sich schnell wandelnden, hochkomplexen Gebiet der Onkologie zunehmend an Bedeutung. Die Knowledge-Driven and Artificial Intelligence-Based Platform for Therapy Decision Support in Hematology (KAIT) vom Innovation Center Computer Assisted Surgery und der Klinik für Hämatologie, Zelltherapie und Hämostaseologie des Leipziger Universitätsklinikums (UKL), deren Entwicklung wir unterstützen, soll beispielsweise Ärzt:innen in der informierten Therapieentscheidung bei komplexen hämatologischen Erkrankungen helfen.34 Je größer die Datenbasis, die solchen KI-Systemen und Tools zur Verfügung steht, um so genauere und aussagekräftigere Ergebnisse können für die Behandlungsstrategie erzeugt werden. Damit diese Daten zur Verfügung stehen können, braucht es aber neben Strukturen zur systematischen Erfassung auch Strategien zum Datenschutz, die es ermöglichen gespeicherte Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken oder für eine bessere, individuellere Versorgung stärker zu nutzen.

Gemeinsam neue funktionierende Strukturen schaffen

Weitere Hürden – neben Datenschutzlösungen, der Begleitdiagnostik, dem Ausbau molekularer Tumorboards und der Schaffung neuer, anerkannter Wege zur Evidenzgewinnung – bestehen darin die Früherkennung und Prävention zu verbessern, Forschung und Versorgung noch stärker zusammenzubringen und das Potenzial der zahlreichen vorhandenen Daten erfolgreich zu nutzen. Damit dies gelingen kann und wir nachhaltig funktionierende Rahmenbedingungen schaffen können, braucht es den Zusammenschluss mit allen Beteiligten des Gesundheitssystems. Das ist für uns eine weitere wichtige Voraussetzung, um unser Ziel aus Krebs eine chronische, heilbare oder irgendwann vermeidbare Erkrankung zu machen, zukünftig erreichen zu können. Deshalb unterstützen wir Initiativen wie die nationale Dekade gegen Krebs oder die Vision Zero, die Akteure aus unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Krebsforschung, Forschungsförderung, Verbänden, Stiftungen und Wirtschaft zusammenbringen, mit dem Ziel die onkologische Versorgung zu verbessern.

Fazit

Das Potenzial der Präzisionsmedizin ist enorm und von einer starken Dynamik geprägt. Präzisionsonkologische Ansätze können zu besseren Ergebnissen für Patient:innen führen und das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen verringern.17 Des Weiteren bieten sie die Chance, dass sich Gesundheitssysteme nachhaltiger aufstellen können, indem sie ermitteln, welche spezifische Interventionen für die individuellen Patient:innen den wahrscheinlich größten Nutzen bedeuten. Sie können Patient:innen, Ärzt:innen und Kostenträger:innen zudem dabei unterstützen, Krankheiten früher zu identifizieren.17,35,36 Der sich für die Betroffenen ergebende Nutzen der Präzisionsonkologie wird begleitet von einigen strukturellen und fachlichen Herausforderungen für Wissenschaft, Gesundheitspolitik und behandelnde Ärzt:innen, denen durch eine gemeinsame Kooperationen aller Beteiligten begegnet werden kann.

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Zuletzt geändert am: 27.07.2021

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