Die Molekulardiagnostik bildet die Grundlage für den sichere(re)n und effektive(re)n Einsatz von vielen zielgerichteten Therapien. Der Nachweis bestimmter molekularer Eigenschaften vor oder ggf. während der Therapie wird häufig zwingend von den Zulassungsbehörden gefordert.
Molekulardiagnostische Analysen dienen dem Nachweis von sogenannten Biomarkern.
Molekulare Biomarker sind objektiv messbar. Es kann sich z.B. um Mutationen in bestimmten Genen, veränderte Proteine auf oder in Zellen oder das gehäufte Auftreten von genetischen Veränderungen infolge defekter DNA-Reparaturmechanismen handeln.
Verschiedene Biomarker werden mithilfe unterschiedlicher Methoden nachgewiesen, z.B. dem sogenannten Next Generation Sequencing (NGS).
Bestimmte, derzeit noch bestehende Hürden müssen überwunden werden, um Patient:innen mit Krebserkrankungen künftig einen uneingeschränkten Zugang zur Molekulardiagnostik und den entsprechenden zielgerichteten Therapien zu ermöglichen. Hier bedarf es einer engen Kooperation zwischen Wissenschaft, Industrie, Gesundheitspolitik und behandelnden Ärzten/Ärztinnen.
In der Therapie onkologischer Erkrankungen ist es heute oft Standard, unter anderem auch die molekularen Eigenheiten des Tumors zu berücksichtigen und Therapien, wo möglich und sinnvoll, individuell auf den/die einzelne:n Patienten:in und seine/ihre Krankheit zuzuschneiden.1,2 Durch das spezifischere Wirkprinzip dieser modernen Wirkstoffe ergeben sich im Vergleich zu Behandlungsoptionen wie der Chemo- oder Strahlentherapie potenzielle Vorteile wie bessere Wirksamkeit und Verträglichkeit.
Der Nutzen einer molekular stratifizierten oder auch zielgerichteten Behandlung konnte u.a. beim Kolorektal- und Mammakarzinom gezeigt werden und viele neue Substanzen werden aktuell – auch von Janssen – entlang molekularer Charakteristika von Tumoren entwickelt.3-5 So untersuchten etwa 55% aller onkologischen Studien im Jahr 2018 zielgerichtete Therapien, während es im Jahr 2000 nur ca. 15% gewesen waren.6
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Für den sichere(re)n und effektive(re)n Einsatz zielgerichteter Arzneimittel wird der Nachweis bestimmter molekularer Eigenschaften, sogenannter Biomarker, oft zwingend durch die für die Zulassung zuständigen Behörden gefordert.4 Molekulare Biomarker sind Charakteristika oder Strukturen, die objektiv gemessen werden können.6 Es kann sich hierbei z.B. um Mutationen in bestimmten Genen, veränderte Eiweißstrukturen (Proteine) auf oder in Zellen oder das gehäufte Auftreten von genetischen Veränderungen infolge defekter Desoxyribonukleinsäure(DNA)-Reparaturmechanismen handeln.7,8
Ziel dieses Biomarker-Nachweises, häufig auch Companion Diagnostics (CDx) genannt, ist die Identifizierung von Patient:innen, die am ehesten von einer Biomarker-basierten Therapie profitieren werden.9 In verschiedenen Tumorentitäten sind prädiktive Biomarker – also molekulare Eigenschaften, mithilfe derer sich das voraussichtliche Ansprechen auf eine Therapie abschätzen lässt – identifiziert worden, darunter beim Lungen- und Prostatakarzinom.
Beim fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom (non-small cell lung cancer; NSCLC) wird davon ausgegangen, dass bis zu 69% der Patient:innen therapierelevante genetische Veränderungen aufweisen, wobei die Prävalenz jedoch deutlich zwischen geografischen Regionen, Populationen, Geschlechtern und Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten variieren kann.10
Mutationen im Gen für den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (epidermal growth factor receptor; EGFR), die zu einer dauerhaften Aktivierung des Rezeptors und in Folge zu einer verstärkten Zellteilung führen können, wurden bereits früh identifiziert: Unter anderem können Deletionen in Exon 19, Punktmutationen in den Exons 18–21 sowie Insertionen in Exon 20 auftreten.11 Zahlreiche andere genetische Veränderungen sind mittlerweile bekannt, darunter ALK- und ROS1-Translokationen.11
Auch beim Prostatakarzinom können genomische Alterationen eine Rolle spielen.12 Ein Biomarker, der hier zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die defiziente DNA-Reparatur. Mutationen in BRCA-, ATM- und weiteren DNA-Reparatur-Genen, können dazu führen, dass DNA-Schäden akkumulieren und es zur Aktivierung von Onkogenen* oder dem Ausfall von Tumorsuppressorgenen✝ kommt.13
Das Vorhandensein eines bestimmten Biomarkers bedeutet nicht automatisch, dass eine zielgerichtete Therapie auch auf jeden Fall wirkt und Biomarker-gestützte Therapien sind so bisher weitgehend indikationsspezifisch. Einige molekulare Veränderungen können jedoch unabhängig von der Histologie des Tumors bzw. dessen Lokalisation Hinweise für das voraussichtliche Ansprechen auf eine zielgerichtete Behandlung geben. Beispiele für solche tumorübergreifenden prädiktiven Biomarker sind u.a. Fusionen des Gens für die neurotrophe Tyrosin-Rezeptor-Kinase (NTRK) mit anderen „unbeteiligten“ Genen sowie Alterationen, die das Gen für den Fibroblasten-Wachstumsfaktor-Rezeptor (FGFR) betreffen.14,15
* Gene, die das Tumorwachstum fördern können
✝ Gene, die das Tumorwachstum hemmen können
Der Begriff Molekulardiagnostik beschreibt ein breites Spektrum an Untersuchungsmethoden. Vor ihrem Einsatz muss geklärt sein, welches Material analysiert und wie es entnommen bzw. präpariert werden soll: So kommen je nach Zeitpunkt im Therapiealgorithmus z.B. der Primärtumor oder progrediente Metastasen für eine Untersuchung infrage. Häufig wird das Gewebe biopsiert und anschließend fixiert – also haltbar gemacht. Soll ein invasiver Eingriff vermieden werden, können u.U. auch Körperflüssigkeiten wie Sputum, Speichel oder Blut für eine molekulare Analyse in Betracht gezogen werden.3
Es gibt zwei Typen von Biomarker-Tests: solche, die nur eine einzige molekulare Eigenschaft – zum Beispiel das Vorhandensein einer genetischen Veränderung oder eines Proteins – untersuchen und jene, die mehrere Biomarker gleichzeitig analysieren.3,16
Der Nachweis von Genmutationen kann mittels Polymerase-Kettenreaktion (polymerase chain reaction; PCR) oder Next Generation Sequencing (NGS) erfolgen. Während PCR-basierte Verfahren in der Regel einfacher, schneller und preisgünstiger sind, lässt sich die NGS-Testung umfassender und flexibler einsetzen. So ermöglicht letztere bspw. die Analyse des vollständigen Genoms („whole genome“), der gesamten kodierenden Erbinformation („whole exome“), ausgewählter Gene („panel“) oder definierter Zielregionen („hotspots“), also mehrerer Biomarker. Erstere deckt hingegen nur spezifische Mutationen wie Insertionen oder Deletionen und damit nur einzelne Biomarker ab.3,17
Eine Methode zum Nachweis chromosomaler Veränderungen ist die sogenannte In-situ-Hybridisierung (ISH), bei der durch den Einsatz fluoreszenzmarkierter Sonden, gezielt DNA-Abschnitte markiert und so z.B. deren Translokation oder Amplifikation sichtbar gemacht werden können.3 Die Untersuchung der An- bzw. Abwesenheit bestimmter Proteine auf oder in Tumorzellen erfolgt hingegen in der Regel mithilfe der sogenannten Immunhistochemie (IHC). Hierbei werden spezifische, gegen die jeweiligen Zielstrukturen gerichtete Antikörper eingesetzt und diese nach Bindung in einem zweiten Schritt sichtbar gemacht.3
Doch selbst wenn eine geeignete zielgerichtete Therapie für eine bestimmte onkologische Erkrankung existiert, ist noch nicht automatisch gewährleistet, dass infrage kommende Patient:innen auch zuverlässig identifiziert werden. Denn es gibt weiterhin verschiedene Herausforderungen für den uneingeschränkten Zugang von Patient:innen zu molekulardiagnostischen Analysen.
So weisen verschiedene Studien bspw. darauf hin, dass beim NSCLC seltene Mutationen in der Praxis oft nicht erkannt werden, da statt der sensitiveren und umfassenderen NGS-Testung, die unter anderem in der aktuellen Leitlinie der European Society for Medical Oncology (ESMO) empfohlen wird, häufig ausschließlich PCR-basierte oder immunhistochemische Verfahren zum Einsatz kommen.18-20 Eine Registerstudie zeigte kürzlich, dass die NGS-Testraten bei Patient:innen mit einem NSCLC (Nicht-Plattenepithel-Histologie) im deutschen Versorgungsalltag nur bei etwa 40% lagen.21
Im Falle des Prostatakarzinoms bekommen in der Praxis derzeit ebenfalls noch nicht alle Patienten mit therapierelevanten genetischen Veränderungen auch tatsächlich eine zielgerichtete Therapie verabreicht.12 Hier könnte eine Rolle spielen, dass in der Behandlung der fortgeschrittenen Erkrankung bisher eher antihormonelle und chemotherapeutische Substanzen zum Einsatz kamen und sich Ärzte/Ärztinnen womöglich noch stärker daran gewöhnen müssen, eine molekulare Testung zu veranlassen.
Da bei raschem Progress im metastasierten kastrationsresistenten Stadium zudem oft schnelle Entscheidungen nötig sind und die molekulare Untersuchung u.U. zeitaufwändig ist (geeignetes Probenmaterial muss identifiziert und für die Molekulardiagnostik vorbereitet, die Probe ins Labor geschickt, der Bericht abgewartet und der Patient ggf. umfassend beraten‡ werden), hat die European Association of Urology (EAU) kürzlich empfohlen, schon beim ersten Auftreten von Metastasen eine genomische Analyse durchzuführen.12
‡ Besonderheit des Gendiagnostik-Gesetzes: Verzögerungen des Therapiebeginns können sich ergeben, wenn genetische Veränderungen sowohl prädiktiv für die individuelle Tumortherapie sind als auch auf eine erbliche Belastung des Patienten und seiner Angehörigen hinweisen; in letzterem Fall ist zunächst eine verpflichtende umfassende Beratung nötig.22
Eine weitere Herausforderung für den flächendeckenden Zugang von Patient:innen zu molekulardiagnostischen Analysen stellt – zumindest in Deutschland – deren unterschiedliche Erstattung im ambulanten bzw. stationären Bereich dar. So sinken die Chancen auf eventuell notwendige Biomarker-Testungen derzeit deutlich ab, wenn ein:e Patient:in von seinem/ihrem Hausarzt zur Weiterbehandlung in ein Krankenhaus überwiesen wird.4
Während die Re-Finanzierung von Biomarker-Untersuchungen in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung im Jahr 2016 sichergestellt wurde, ist sie im Abrechnungssystem der stationären Versorgung bisher noch unzureichend berücksichtigt.4 Krankenhäuser erhalten für die Versorgung ihrer Patient:innen sogenannte Fallpauschalen, deren Höhe sich aus dem in der Vergangenheit angefallenen Behandlungsaufwand ergibt. Die Kosten neu hinzugekommener Behandlungsmethoden werden jedoch verzögert in den Fallpauschalen berücksichtigt, und auch nur dann, wenn eine ausreichende Zahl ausgewählter Dokumentationskrankenhäuser diese Kosten dokumentiert.4
Damit Krankenhäuser während dieser als ‚Innovationslücke‘ bekannten Zeitspanne Patient:innen mit neuartigen Methoden oder Leistungen behandeln können, besteht die Möglichkeit, sogenannte NUB-Anträge zu stellen und so die Vergütung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu beantragen. Problematisch hierbei: Die Finanzierung ist jeweils auf ein Jahr befristet und gilt nur für das beantragende Krankenhaus.4
Um Qualitätsunterschiede hinsichtlich der Molekulardiagnostik zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten auszugleichen bzw. einheitliche Qualitätsstandards zu etablieren, erließ die Europäische Union vor einiger Zeit die Verordnung für In-vitro-Diagnostika (In Vitro Diagnostics Regulation; IVDR): Sie trat im Mai 2017 offiziell in Kraft und ist ab Mai 2022 verpflichtend anzuwenden.9,23 Obwohl richtig und wichtig, können sich hieraus zusätzliche Hürden für die flächendeckende molekulardiagnostische Versorgung von Patient:innen mit Krebs ergeben.
So müssen Hersteller von In-vitro-Diagnostika, wenn ihr Produkt nach dem Mai 2022 weiterhin auf dem Markt verfügbar sein soll, zunächst einen Zertifizierungsprozess durchlaufen, der u.a. die Beurteilung durch sogenannte “Benannte Stellen” (engl.: notified bodies; NBs) beinhaltet. Bei mehr als 30.000 neu zu bewertenden molekulardiagnostischen Tests und vier registrierten NBs (Stand: April 2021) scheinen zeitliche Verzögerungen und folglich eine eingeschränkte Verfügbarkeit bestimmter In-vitro-Diagnostika vorprogrammiert zu sein.24,25
Eine weitere Herausforderung stellt die Vorgabe dar, dass für die In-vitro-Diagnostik ein kommerzieller Test zu verwenden ist, wenn ein solcher existiert. Da dies jedoch auf Seite der Labore mit einer deutlichen finanziellen Mehrbelastung einhergehen kann, z.B. wenn größere Geräte-Anschaffungen nötig werden, sind Laborschließungen und infolgedessen eine Gefährdung der regionalen molekulardiagnostischen Versorgung denkbar.23
In der Präzisionsonkologie (und in Konsequenz auch in der Molekulardiagnostik) wurden in den letzten 20 Jahren große Fortschritte erzielt, von denen Patient:innen mit bestimmten Krebserkrankungen bereits teils deutlich profitieren. Allerdings kann die personalisierte Krebsmedizin Patient:innen nur dann erreichen, wenn der Zugang zu neuen Wirkstoffen nicht durch mangelnde Finanzierung oder durch eine langsamere Zulassung und/oder Zertifizierung der dazugehörigen Biomarker-Tests untergraben wird.5,24
Die enge Kooperation von Wissenschaft, Industrie, regulatorischen Behörden, nationalem Gesundheitswesen und Behandler:innen ist der Schlüssel, um geeignete Voraussetzungen für eine deutschlandweite Verfügbarkeit molekulardiagnostischer Untersuchungen mit standardisierter Qualität zu schaffen.6,22 Damit Patient:innen flächendeckend die für sie individuell beste Therapie erhalten können, müssen zudem einheitliche strukturelle Rahmenbedingungen geschaffen, bürokratische Abläufe teils neu definiert und Ärzte/Ärztinnen bzw. Patholgen/Pathologinnen entsprechend geschult werden.5
Zuletzt geändert am: 21.05.2021
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